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Wednesday, July 21, 2021

Ökonomisches Long-Covid: Jetzt droht Deutschland der Wohlstands-Knick - WELT

Zuerst die Pandemie, jetzt das Hochwasser. Innerhalb kürzester Zeit ist den Bundesbürgern bitter bewusst geworden, wie unzureichend die deutschen Institutionen auf Krisen vorbereitet sind. Auf ökonomischem Gebiet hatten sich bereits in den Jahren zuvor die Warnzeichen gehäuft. So war die deutsche Industrie schon 2019 in die Rezession gerutscht, noch vor dem Ausbruch von Covid.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist jetzt mit einem Gutachten an die Öffentlichkeit gegangen, das zahlreiche strukturelle Defizite in der Krisenreaktion aufdeckt und auflistet und Verbesserungsvorschläge macht. „Ökonomische Konsequenzen der Coronavirus-Pandemie. Diagnosen und Handlungsoptionen“ heißt die Stellungnahme der Institution, zu der zehn namhafte Wissenschaftler mitgearbeitet haben.

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Tenor: Der Lockdown hat Deutschland zwar einerseits einen Modernisierungsschub beschert, gewissermaßen eine Digitalisierung aus der Not heraus. Zugleich drohen ökonomisch langfristige Folgeschäden, die unadressiert zu einem Wohlstands-Knick führen könnten.

Ähnlich wie eine Infektion mit dem Coronavirus gesundheitliche Beeinträchtigungen von unbekannter Dauer nach sich ziehen kann, könnte die Wirtschaft künftig an einem Long-Covid-Syndrom leiden. Die Themengebiete, zu denen sich die Experten in der Stellungnahme äußern, sind vielfältig: Sie reichen von der Fiskal-, über die Wettbewerbspolitik bis hin zur Bildungspolitik.

Gerade der monatelange Ausfall von regulärem Schulunterricht könnte sich als schwere Hypothek erweisen. In der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts übersetzt sich mangelndes Wissen schnell in weniger Produktivität und Innovation und damit in weniger Wohlstand.

Quelle: Infografik WELT

Die Millionen ausgefallener Schulstunde der Lockdown-Ära können schwer wieder aufgeholt werden. Darunter leiden vor allem Kinder aus bildungsfernen Haushalten, deren Einkommenschancen sich dadurch für den Rest ihres Lebens verschlechtern. „Eine Erhebung unter mehr als 1000 Eltern von Schulkindern (...) ergab, dass 57 Prozent der Schülerinnen und Schüler im ersten Lockdown seltener als einmal pro Woche gemeinsamen Online-Unterricht hatte, nur bei sechs Prozent war dies täglich der Fall“, heißt es in der Leopoldina-Stellungnahme.

Selbst während der zweiten Schulschließungen Anfang 2021 habe nur ein Viertel der Schülerinnen und Schüler täglich gemeinsamen Online-Unterricht gehabt, 39 Prozent maximal einmal pro Woche. Als eine Maßnahme fordern die Experten, zu denen der Bildungsforscher Ludger Wößmann von der Universität München gehört, bei künftigen Schulschließungen „täglich verpflichtenden Online-Unterricht per Videokonferenz für alle Schülerinnen und Schüler“.

Für die Motivation der Kinder und Jugendlichen sei es zudem wichtig, die üblichen Test- und Prüfungsverfahren auch im Distanzunterricht weiterzuführen. Gerade letzteres war während der Quarantäne häufig unter den Tisch gefallen.

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Die Chancengerechtigkeit habe sich als Folge von Corona verschlechtert, diagnostizieren die Wissenschaftler und reden von langfristig hohen wirtschaftlichen Kosten: Wenn nicht gegengesteuert wird, muss bei Lernverlusten, die einem Drittel eines Schuljahres entsprechen, im Berufsleben im Durchschnitt mit rund drei Prozent geringeren Erwerbseinkommen gerechnet werden“, heißt es in der Stellungnahme. Zudem sei zu befürchten, dass sich fehlende Chancengleichheit negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkt.

Eine zweite Sorge, die die Experten umtreibt, dreht sich darum, dass Deutschland bei Zukunftsinvestitionen noch weiter zurückfällt. „Die deutsche Volkswirtschaft weist seit mehreren Jahrzehnten im Trend sinkende Produktivitätszuwächse auf“, heißt es in dem Papier der Leopoldina. Die Notwendigkeiten der Klimapolitik und die Alterung der Gesellschaft könnten das Problem verschärfen. Die Aussichten, die Herausforderungen der Zukunft ohne Einbußen beim Prosperitätswachstum zu bewältigen, seien schon vor der momentanen Krise gedämpft gewesen.

Liquiditätsreserven aufgebraucht

Die Pandemie könnte die Bundesrepublik noch einmal zurückwerfen. „Während hierzulande Fähigkeiten und Sozialkapital brachlagen und zum Teil entwertet wurden, sodass bei Bildung und beruflichen Netzwerken erst einmal Wiederaufbau und Aufholprozesse in Gang gesetzt werden müssen, konnten Anbieter aus anderen Wirtschaftsregionen, insbesondere Asien aber auch weiteren europäischen Ländern, ihre Wettbewerbsposition vermutlich weiter verbessern“, bringen es die Forscher auf den Punkt. Als Folge von Corona und Lockdown fehlt es vielen Unternehmen an ausreichenden Ressourcen für Investitionen. Liquiditätsreserven seien aufgebraucht und die Verschuldung gestiegen.

Damit Deutschland nicht weiter zurückfällt, legen die Forscher der Politik nahe, steuerliche Anreize für Investitionen und Innovationen zu schaffen. Eine Verbesserung der Verlustverrechnung und eine vorübergehende Aussetzung der Mindestbesteuerung könnten dazu beitragen, Liquidität zu erzeugen und Unternehmen nach der Krise schnell zu entschulden.

„Ein weiterer Weg, um zielgenau Strukturinvestitionen zu stimulieren, liegt in der Festlegung erweiterter steuerlicher Abschreibungsmöglichkeiten für Güter des Anlagevermögens. Evidenz zeigt, dass Firmen hierüber ihre Kapitalinvestitionen und Beschäftigung signifikant ausweiten“, ist in der Stellungnahmen zu lesen. Da mittlere und kleinere Firmen hier besonders stark reagieren, könnte so sogar Tendenzen zur Marktkonzentration entgegengewirkt werden.

„Das Instrument begünstigt zudem nur solche Firmen, die tatsächlich investieren. Es hilft vor allem Unternehmen, die von der Corona-Krise negativ getroffen wurden, kaum über Liquidität verfügen und wegen gestiegener Verschuldungsquoten neue Investitionsprojekte nur schwer oder teuer extern finanzieren können.“ Für den Staat sei diese Maßnahme im aktuellen Niedrigzinsumfeld darüber hinaus kostengünstig. Es würden lediglich Steuerzahlungen in die Zukunft verschoben.

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Die Experten lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass auch strukturelle Reformen notwendig sind. Teilweise hätten die verschiedenen Institutionen schlecht miteinander interagiert. Das gelte sowohl für die verschiedenen Stellen und Behörden innerhalb Deutschlands als auch auf europäischer Ebene. „Mit Blick auf staatliche Institutionen und Maßnahmen zu klären, ob und wie national die Befähigung zum strategischen Agieren gestärkt werden und wie sie zugleich in eine europäische Strategie eingebunden werden kann“, formulieren die Forscher.

Damit es nicht an Geld für diese Modernisierung mangelt, raten die Experten von einer allzu rigiden Finanzpolitik ab. Für Deutschland bringen sie eine Ergänzung der Schuldenbremse durch eine neue Version der „Goldenen Regel“ ins Spiel, die es dem Staat erlauben würde, Investitionen zu tätigen, ohne dass die Ausgaben dafür auf das verfassungsrechtlich begrenzte Defizit angerechnet werden.

Allerdings betont der Finanzwissenschaftler Eckhard Janeba von der Universität Mannheim, der an der Stellungnahme mitgewirkt hat, dass es sehr genau zu überlegen sei, was als Investition in die Zukunft zu verstehen ist. Auch dürfte die Definition solcher Investitionen aus Glaubwürdigkeitsgründen nicht ständig modifiziert werden. Eine gut ausgestaltete europäische Arbeitslosenversicherung könne helfen, ökonomische Schocks innerhalb der Europäischen Union abzufedern.

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Auch verstärkte Ungleichheit als Folge der Pandemie wird als Problem identifiziert. Pauschal höhere Steuern seien aber nicht die Lösung: „Steueranpassungen, die am Einkommen oder Vermögen anknüpfen, schaffen keinen zielgenauen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern der Krise.“

Selbst die Wahl einer Steuerbasis, die Einkommensänderungen zwischen 2019 und den Krisenjahren berücksichtigt, löse dieses Problem allenfalls unvollkommen, da die Einkommen im Zeitablauf nicht nur krisenbedingt schwanken und viele nicht-pekuniäre Zusatzbelastungen nicht mit Einkommensänderungen korrelieren.

Die Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip führe generell dazu, dass Haushalte mit höheren Einkommen stärker zur Finanzierung der coronabedingten Lasten beitragen als Haushalte mit niedrigeren Einkommen. Einen Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern der Krise schaffe das aber nicht.

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